9. November 2018 – 17 Uhr | Mahnmal Levetzowstraße, Berlin Moabit Gedenkkundgebung und anschließende antifaschistische Demonstration
»Je näher wir an Berlins Mitte mit seinen vielen jüdischen Läden kamen, desto mehr verwüstete Geschäfte entdeckte ich. Überall lagen die Scherben und die Auslagen der Schaufenster auf den Gehwegen herum. Ich kann mich an einen SA-Mann erinnern, der zwei elegant gekleidete Schaufensterpuppen in die Gosse warf. Nun hörte ich auch das Gebrüll der Nazi-Meute: „Judenschwein!“, hallte es durch die Straßen.«
Am 9. November 1938 fanden die Novemberpogrome ihren Höhepunkt. Im gesamten Deutschen Reich wurden Jüdinnen*Juden verschleppt, vergewaltigt, inhaftiert und ermordet. Jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Synagogen wurden geplündert, zerstört und in Brand gesteckt. Auf den Straßen brach sich der gewalttätige deutsche Antisemitismus Bahn, der staatlich angestoßen und koordiniert wurde. SA und SS führten die Morde, Brandstiftungen und Verwüstungen an. Die nicht-jüdische Bevölkerung beteiligte sich aktiv an dem Pogrom oder stimmte mit ihrem Schweigen zu.
Auftakt zur Vernichtung
Insgesamt wurden in den Tagen um den 9. November 1.300 Jüdinnen*Juden ermordet, über die Hälfte der Gebetshäuser und Synagogen in Deutschland und Österreich wurden zerstört. Ab dem 10. November erfolgte die Deportation von 30.000 Jüdinnen*Juden, davon allein 6.000 Berliner*innen in Konzentrationslager. Die Pogrome waren der Auftakt zur Vernichtung. Bis zum 9. November 1938 hatte das nationalsozialistische Deutschland Jüdinnen*Juden Schritt für Schritt aus der Gesellschaft ausgegrenzt: mit Berufsverboten, Ausschluss aus den Universitäten, später mit den „Nürnberger Rassegesetzen“ sowie der „Arisierung“ jüdischer Unternehmen. Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begann dann 1939 die NS-Eroberungspolitik. Hinter den Truppen der nach Osteuropa vorrückenden Wehrmacht folgten die deutschen Einsatzgruppen, die als „Volksfeinde“ gebrandmarkte Menschen in Massenerschießungen ermordeten. Neben Jüdinnen*Juden wurden Rom*nja, Sinti*zza, psychisch kranke und geistig behinderte Menschen sowie Kommunist*innen und andere politische Gegner*innen ermordet. Die NS-Vernichtungspolitik gipfelte in der Shoah, dem industriellen Massenmord: Bis 1945 ermordeten die Deutschen sechs Millionen Jüdinnen*Juden.
German Gedächtnis
Nach 1945 war die spezifisch deutsche Erinnerung bestimmt von der Hervorhebung einzelner pathologisierter Verbrecher. Demgegenüber behauptete der Großteil der deutschen Bevölkerung nichts von den – laut dem heutigen Stand der Forschung – über 42.000 Orten nationalsozialistischer Verbrechen in Europa gewusst zu haben. Mit dem Abbruch der Entnazifizierung in der BRD, erhielt der Nationalsozialismus als eine aufzuarbeitende Geschichte, erst in den 1960er Jahren durch den Eichmannprozess und die Auschwitzprozesse wieder Beachtung – und das auch nur mit Widerstand gegen die in die Staatsapparate reintegrierte NS-Funktionselite. Die Frage der Erinnerung bleibt in Deutschland stets mit dem Versuch der Schuldloslösung verbunden. Die Etappen und Nuancen reichen vom Beschweigen und Verdrängen der Täter*innengeneration, der unvollständigen Anklage der 68er-Bewegung, bis hin zur öffentlichen Empörung über den Kniefall von Willy Brandt vor dem Ehrendenkmal des Warschauer Ghettos 1970. Dieser steht symptomatisch für den Wandel der deutschen „Verleugnungsgemeinschaft“ zu einer vermeintlich vorbildlichen „Erinnerungsgemeinschaft“, die schließlich um ihr Holocaustmahnmal „beneidet“ werden sollte. Tatsächlich dauerte es jedoch bis weit in die 2000er Jahre bis sowjetische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter*innen, Homosexuelle, Opfer sozialrassistischer Verfolgung sowie Sinti*zza, Rom*nja und Jenisch, kranke und geistig behinderte Menschen als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden. Bis heute müssen Opfer in der Rolle der Bittsteller*innen auftreten und bekommen Entschädigungszahlungen vorenthalten. Das mag erst einmal widersprüchlich wirken, ist doch die Geschichte der Wiedergutwerdung der Deutschen zu einem Gründungsmythos der BRD gereift. Diese habe sich in Negation zum Nationalsozialismus gegründet und kämpfe nun aufrecht gegen das Böse. Deutscher Antisemitismus besteht in jener Erzählung nur in historischer Form. Doch die andauernde Verweigerungshaltung gegenüber Geschädigten macht es sehr deutlich: Eine tatsächliche Aufarbeitung der Verbrechen und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Nationalsozialismus hervorgebracht haben, hat es nie gegeben. Die toten Jüdinnen*Juden dienen lediglich als Fundament einer neuen nationalen Selbstvergewisserung.
Antisemitismus, eine deutsche Normalität
Während in der deutschen Mehrheitsgesellschaft also erneut in Frage gestellt wird, ob die Auseinandersetzung mit der Shoah relevant sei, sehen sich Jüdinnen*Juden in Deutschland zunehmend durch verschiedene Formen des Antisemitismus bedroht. In Bonn wurde der israelische Professor Jitzchak Jochanan Melamed im Juli diesen Jahres geschlagen, ihm wurde die Kippa vom Kopf gerissen und er wurde antisemitisch beleidigt. Als die von seiner Begleiterin gerufene Polizei eintraf, hielten die Beamten ihn für den Täter, warfen ihn zu Boden und schlugen ihm ins Gesicht. Auf der Wache sollte Melamed von einer Beschwerde abgebracht werden, ihm wurde gedroht: »Leg dich nicht mit der deutschen Polizei an.«
Das auch für einige „besorgte Bürger*innen“ der Schritt von Demonstrationen zu Überfällen auf Jüdinnen*Juden nur ein kurzer ist, zeigt der Überfall auf das jüdische Restaurant Shalom: Nach einem rassistischen Aufmarsch in Chemnitz am 27. August 2018 griffen Neonazis unter dem Ruf »Hau ab aus Deutschland, du Judensau!« das Lokal an. Es war nicht der erste Angriff auf das „Shalom“. Seit der Eröffnung im Jahre 2000 wurden immer wieder Scheiben eingeworfen und Schweinsköpfe vor dem Lokal abgelegt.
Antisemitismus stellt für die Betroffenen eine große Bedrohung und Verunsicherung dar. In der Folge verzichten viele Jüdinnen*Juden im öffentlichen Raum auf alles, was sie als jüdisch erkennbar machen könnte. Die Mehrheit erlebt aber selbst dann antisemitische Andeutungen oder offene Anfeindungen. Gerade in „Sozialen Netzwerken“ häufen sich Fälle von Bedrohungen und antisemitischer Propaganda eklatant. Die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus zählte allein für Berlin 2017 947 antisemitische Vorfälle pro Jahr. Die Dunkelziffer dürfte noch größer sein. Eine strafrechtliche Verfolgung findet selten statt.
Ob es die deutsche Mehrheitsbevölkerung wahrhaben will oder nicht, ob sie es leugnet oder Antisemitismus ausschließlich in migrantischen Communities verortet: dieser ist weiterhin auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft anwesend. Er äußert sich in verschwörungsideologischen Bedrohungsfantasien, in Dämonisierung des israelischen Staates oder ganz konkret in Schmierereien und körperlichen Angriffen. Die dringend notwendige Solidarität bei antisemitischer Gewalt und Ausgrenzung ist jedoch auch in der linken Szene zu oft nicht selbstverständlich. Der nicht-jüdische Teil der Bevölkerung „gewöhnt“ sich an Gewalt und Verfolgung – und stimmt mit ein.
Damit bleibt das Leben von Jüdinnen*Juden in Deutschland bedroht. Gerade deshalb gilt es für Antifaschist*innen den Staat Israel, das heißt den Staat der Überlebenden der Shoah, als Zufluchtsort und notwendige Sicherheitsgarantie für Jüdinnen*Juden zu verteidigen.
»Erinnern heißt handeln« (Esther Bejarano, Auschwitz-Komitee)
Wenn wir heute an die Novemberpogrome von 1938 erinnern, heißt das, dass wir ihrer Opfer gedenken, ihnen Namen und Geschichten geben. Es heißt auch, dass wir antifaschistisch wachsam sind gegenüber einer Gesellschaft, deren autoritäre und Ressentiment geladene Tendenzen wieder offen zu Tage treten. Die Novemberpogrome stellten einen frühen Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung dar, aber passierten nicht aus dem Nichts heraus. Die deutsche Gesellschaft stimmte aktiv in die Vernichtungspolitik ein. Viele überlebende Opfer des Nationalsozialismus haben durch ihren lebenslangen Einsatz antifaschistische Kämpfe entscheidend geprägt. Wir werden diese bald ohne sie weiter führen und eigene Worte und Wege finden müssen. Begleiten werden uns dabei die Worte von Esther Bejarano: »Aus der Erfahrung unseres Lebens sagen wir: Nie mehr schweigen, wegsehen, wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten!« Dem Gedenken an die deutschen NS-Verbrechen auch weiterhin Gehör zu verschaffen sowie Konsequenzen daraus einzufordern, bleibt eine der wichtigsten Aufgabe für alle Antifaschist*innen.
Wir wollen ein Gedenken, das die Täter*innen und Mittäter*innen benennt, das aber vor allem Raum lässt für die Erinnerung an die Opfer. Ein Gedenken, das entschieden für heutiges jüdisches Leben und dessen Schutz eintritt. Gedenken und kämpfen wir gemeinsam: Kommt am 9. November zur Gedenkkundgebung und anschließend zur antifaschistischen Demonstration nach Moabit!