IMG_0001

In Europa wird deutsch gesprochen“

Ein Text der Gruppe *andere zustände ermöglichen

Download

Im November 2011 rief CDU Fraktionschef Volker Kauder den Satz „In Europa wird deutsch gesprochen“ in den Saal des CDU-Parteitags. Kauder wollte die deutsche Vormachtstellung in Europa abfeiern und sprach gleichzeitig offen aus, was schon länger klar gewesen sein dürfte: Die Europäische Union ist von einem Projekt der Einhegung Deutschlands zur Basis der Machterweiterung Deutschlands mutiert. Dieser Machtgewinn geht auf Kosten der Menschen in Südeuropa und anderswo vonstatten und ist zudem in dem Kontext der deutschen Geschichte zu sehen. Während in der deutschen Linken über den Sinn und Unsinn von Finanztransaktionssteuer, Verbot von Leerverkäufen, Hochfrequenzhandel, der Einführung von Eurobonds, ESM und ESFSF diskutiert wird, gehört es unserer Meinung nach zur dringlichsten Aufgabe der radikalen Linken, den deutschen Staat und den deutschen Krisennationalismus selbst ins Visier zu nehmen. Denn nicht nur versteht es sich von selbst, aus einer antikapitalistischen Position heraus gegen Standortnationalismus und die Hegemoniebestrebungen von Nationalstaaten zu arbeiten. Auch die alltägliche Zurichtung der Individuen durch staatlichen Institutionen, deren Kontrolle und Gewalt muss entgegengetreten werden, um der kapitalistischen Produktionsweise in die Suppe spucken zu können. Um die Perfidie des deutschen Krisenregimes zu verstehen, gehen wir kurz auf die jüngeren deutschen Großmachtambitionen in Europa ein, beispielhaft anhand von Griechenland, um vor diesem Hintergrund die neue Hegemonie Deutschlands in Europa zu betrachten.

Deutschland und Griechenland im 2.Weltkrieg

Es gehört zur Geschichte Griechenlands, schon häufig durch Deutschlands Interessensausübung massiv negativ beeinflusst worden zu sein. Das grausamste Kapitel dieser Art war der Balkanfeldzug der deutschen Wehrmacht ab April 1941, der aus kriegswirtschaftlichen Strategien als Beutezug für die deutsche Armee (vor allem für die Militäroperationen in Nordafrika und der Nahost-Region) organisiert wurde. Unter der deutschen Besatzung wurde Griechenland rücksichtslos ausgeplündert und aller wirtschaftlich wichtigen Rohstoffe und Waren wie Erze, Öl, Baumwolle, Seide und Tabak beraubt. Treibstoffe, Lebens- und Transportmittel sowie sämtliche Maschinen von Bergbau- und Industriebetrieben wurden umgehend beschlagnahmt und abtransportiert, was einen Prozess der umfassenden Deindustrialisierung einleitete. Hinzu kamen die ständig steigenden Forderungen nach zinslosen Darlehen bei der griechischen Nationalbank und die Besatzungskosten, für die hauptsächlich die Zivilbevölkerung aufkommen musste. Die 1943 monatlich verlangten 78 Reichsmark pro Kopf waren die höchste Summe im gesamten deutschen Besatzungsgebiet. Die griechische Wirtschaft und die in die Inflation getriebene Währung wurden damit vollständig und nachhaltig zerstört. Auch in Griechenland verfolgten die Deutschen ihr Vorhaben der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden: Die deutschen Behörden ließen 65.000 griechische Juden und Jüdinnen in Vernichtungslager deportieren. Wegen unablässiger Plünderungen und Konfiszierungen (50 Prozent der Mais- und Gersten-, 40 Prozent der Weizenproduktion), Preissteigerungen und durch den Krieg bedingte Missernten starben mehrere Hunderttausend Griech*innen an Hunger. Die Säuglingssterblichkeit lag bei 80 Prozent. Der Widerstand gegen das deutsche Besatzungsregime ließ auch unter den widrigsten Umständen und der bedrängenden Notsituation der Bevölkerung nicht nach. Um diesen Widerstand zu brechen, verübte die Wehrmacht Geiselerschießungen und Massaker an der Zivilbevölkerung und äscherte ganze Ortschaften ein.

1953 wurde bei einem Sondergipfel in London beschlossen, 60 Prozent von Deutschlands Schulden zu streichen, Moratorien einzuführen und Rückgabefristen zu verlängern. Dies ging zulasten von Gläubigern wie Griechenland, das keine Reparationszahlungen erhielt. In den Zwei-plus-Vier-Verträgen im Zuge der Wiedervereinigung wurde die Reparationsfrage ausgespart, wodurch Deutschland die Möglichkeit bekam, die 1953 aufgeschobenen Schulden endgültig unter den Tisch fallen zu lassen. Angesichts dieser Schuldverhältnisse erscheint es absurd, das Griechenland seit den 70er Jahren bei Deutschland und seinen Banken Schulden aufnimmt und hohe Zinsen zahlen muss.

Hegemonie made in Europe

Die viel betonte Produktivität Deutschlands seit dem „Wirtschaftswunder“ der 50er und 60er Jahre, die mit angeblich deutschen Tugenden wie Fleiß, Arbeitseifer, Disziplin und technischem Erfindungsreichtum einher gegangen sein soll, ist also weder wunderliche noch innerste Eigenschaft der ‚Deutschen‘. Denn die westlichen Länder nahmen bedingt durch die geopolitische Position Westdeutschlands im Kalten Krieg und die Expansionszwänge des Kapitalismus eine solidarische Position zur BRD ein, die dieser zu wirtschaftlicher Stärke verhalf. Wenige Jahre, nachdem Deutschland Europa in seine Barbarei zwängte, waren es dann ab 1960 unter anderem auch griechische und italienische Gastarbeiter*innen, die Deutschlands Wirtschaftswachstum als günstige Arbeitskräfte befeuerten und Deutschland in die vorderen Positionen der nationalen Konkurrenz schoben. Auch die Bemühungen in Europa, Deutschland stärker in ein europäisches Wirtschaftssystem einzubinden und das von Deutschland ausgehende Bedrohungspotential langfristig einzuhegen, führten letztlich zu einer Dominanz Deutschlands in Europa mithilfe eben jener europäischer Institutionen.

Deutschland dominiert also nicht nur durch die autoritäre Führungsrolle der Bundesregierung, die wirtschaftliche Stärke rücksichtslos in politische Macht ummünzt, sondern auch durch die Vorherrschaft Deutschlands und seiner Verbündeten in den EU-Institutionen selbst. Unter anderem sieht man dies an der Implementierung der deutschen ordoliberalen Ideologie im Vertrag von Maastricht: Hier wurden nicht nur die von Deutschland geforderten Stabilitätskriterien festgeschrieben, sondern auch die Europäische Zentralbank nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank konstruiert, deren Priorität es ist die Inflation niedrig zu halten. Andere Beispiele für in deutschem Interesse geschlossene EU-Verträge sind der Fiskalpakt und die Dublin-II-Verordnung. In ersterem verpflichten sich die EU-Staaten zu einer Haushaltskonsolidierung á la BRD und in letzterem erklären sich die Staaten an den EU-Außengrenzen (also nicht Deutschland) bereit, die Kontrolle, Inhaftierung und Abschiebung der Geflüchteten, die über ihr Territorium in den Schengenraum eingereist sind, zu übernehmen.

Die Interessen von deutscher Politik und deutschem Kapital werden auch in der Wirtschaftskrise in den EU-Gremien rigoros durchgesetzt und die deutsche Staatsräson bildet eine harte Linie gegenüber „schwächelnden“ Mitgliedsländern, die für ihre missliche Lage bekanntermaßen selbst die Schuld trügen. Die deutsche Hegemonie in Europa geht mit einer ökonomischen Struktur einher, die andere Länder zu Schuldnern Deutschlands machte. Mittels des liberalisierten Binnenmarkts ermöglichte der europäische Rahmen der deutschen Exportwirtschaft einen massiven Überschuss in der Außenhandelsbilanz. Länder wie Griechenland gerieten so in eine verfestigte Importabhängigkeit gegenüber deutschen Produkten und bezahlten dieses Bilanzdefizit mittels Krediten. Ohne die Schulden Griechenlands, Spaniens, Italiens etc. hätte die deutsche Exportwirtschaft keinen Erfolg gehabt. Die Gewinne des deutschen Kapitals wurden durch die Schulden der südeuropäischen Länder finanziert. Diese Schulden basieren selbst zu einem guten Teil auf deutschen Krediten, mitunter ein Grund, weshalb es in den Krisenlösungsszenarien so gut wie nie um Schuldenerlasse geht. Als eben dieser Schuldnerstatus durch die Krise prekär wurde, galt er als Ausweis schlechten Wirtschaftens. Seither fungiert die Verschuldung als Legitimationsargument für Entmündigung und Entdemokratisierung und der autoritären Einmischungen des Gläubigers Deutschland, wie sich besonders deutlich am Phänomen der technokratischen Regierungen in Rom und Athen zeigte.

Ein weiterer Aspekt der deutschen Hegemonie ist die Durchsetzung der in Deutschland bereits durch die Agenda 2010 eingeführten Sozialkürzungen im EU-Raum. Jede „Hilfsmaßnahme“ der Troika aus EZB, IWF und EU ist an die Implementierung von Sozialkürzungen geknüpft. Kredite, die das Überleben der kapitalistischen Wirtschaftsweise sichern, werden nur gewährt bei gleichzeitiger Hinnahme von Privatisierungen staatlicher Betriebe und Sozialkürzungen, wie beispielsweise der Aufhebung des Kündigungsschutzes von Beamten und der Anhebung des Renteneinstiegsalters. Zudem werden Sozialhilfeleistungen für die Ärmsten gekürzt oder eingestellt, die Obdachlosigkeit nimmt zu. So erhöht sich der Druck, prekäre Lohnarbeit hinzunehmen; die Löhne sinken extrem, die Arbeitslosigkeit besonders unter Jugendlichen und Ausgebildeten steigt. In Spanien und Griechenland liegt sie jeweils deutlich über 50%. Die Anzahl der Suizidversuche stieg in Griechenland von 2010 bis 2011 um über 30%. Dass die deutsche Krisenpolitik keine Zukunft verspricht, dürfte klar sein.

Zu überleben scheint einzig noch in Deutschland möglich zu sein. Dadurch emigrieren Tausende ausgebildeter und junger Menschen von Spanien und Griechenland nach Deutschland, in der Hoffnung auf Arbeit. Hier werden sie nationalistisch und/oder rassistisch diskriminiert und gleichzeitig als günstige Arbeitsreserve willkommen geheißen. Einerseits sollen sie als Fachkräfte die Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen, andererseits fungieren sie als Reservearmee und müssen oft am unteren Ende der Arbeitsmarkthierarchie prekäre Jobs annehmen.

In diesem Sinne funktionieren auch die Hetzkampagnen gegen „faule Südländer“, die das Machtverhältnis zwischen Deutschland und Südeuropa legitimieren und somit letztlich auch die Profitinteressen Deutschlands sichern sollen. Griechenland – entsprechende Ressentiments sind allerdings auch auf andere Länder willkürlich übertragbar – wird dabei als rückständig und ineffizient dargestellt. Im Zuge der griechischen Wahlen 2012 betrieben deutsche Zeitungen wie die FAZ oder die Financial Times einen Wahlkampf, der sich hauptsächlich gegen die einzige Partei richtete, die kein klar rassistisches und affirmativ-kapitalistisches Programm hatte, sondern versuchte die Perspektive eines sozialen Europas voranzutreiben. Dass in Griechenland mittlerweile die faschistische Bewegung eine treibende Kraft des gesellschaftlichen Rechtsrucks ist, Migrant*innen von Nazis und Polizei gleichermaßen verfolgt und ermordet und Anarchist*innen in Haft gefoltert werden, scheint zwar den ein oder anderen Artikel, aber keinen Zweifel am herrschenden Krisenregime wert zu sein. Zum Erbe Deutschlands gehört ebenso, dass die stärkste faschistische Partei in Griechenland, Chrysi Avgi, sich bei ihrem Terror nationalsozialistischer Ideologie bedient.

Deutschland selbst kommt in der griechischen Öffentlichkeit und bei den Protesten gegen die Spardiktate nicht gut weg. Die personalisierende Kritik an Merkel oder die rassistische Hetze gegen Migrant*innen als scheinbar Verantwortliche der Situation zeigen, dass die notwendige Kritik an Kapital und Nation in Krisenzeiten keineswegs leichter fällt. Ganz im Gegenteil, in dem am von der Krise härtesten betroffenen Griechenland haben Nationalismus und Rassismus Hochkonjunktur, die auch in den Protesten gegen die Austeritätsmaßnahmen sichtbar sind. Daher wäre eine undifferenzierte Solidarisierung mit allen Anti-Krisen-Kämpfen gefährlich, denn oft dient auch eine (berechtigte) Kritik an Deutschland nur der Legitimierung der eigenen nationalistischen Agenda.

Hegemony made in Germany

In Deutschland selbst scheint die Krise durch die Brille nationalistischer Verblendung mit schaurigem Wohlbehagen betrachtet zu werden: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Vor allem nicht jetzt, nicht in der Krise darf der deutsche Motor stottern. Stattdessen werden hierzulande alle auf die deutsche Standortgemeinschaft eingeschworen, sei es durch die Schreckensbilder des sozialen Abstiegs in Griechenland oder durch sozialchauvinistische Hetze gegen, in Kontinuität des NS-Jargons, „Asoziale“, Hartz4-Bezieher*innen und Menschen, die als „Nicht-Deutsche“ angesehen werden. Diese Stimmung hilft auch in der deutschen Bevölkerung niedrige Löhne und Sozialkürzungen zu rechtfertigen. Diese stellen die hausgemachten Grundlagen der deutschen Exportwirtschaft dar. Sinkende Reallöhne und die Bereitschaft den eigenen Gürtel für Deutschland enger zu schnallen gingen dem also schon voraus. Die dadurch in Position gehaltene Profitabilität der Exporte Deutschlands steht mit dem Klassenkampf nach Innen in einem wechselseitigen Verhältnis: Dass die deutsche Wirtschaft vorrangig vom Export „ihrer“ Waren lebt, sorgt gleichzeitig dafür, dass es weniger Druck auf die Kaufkraft im Binnenmarkt gibt, das Lohnniveau also aus Sicht der Unternehmen auch perspektivisch stagnieren oder sinken darf. Und so wie das Wegrationalisieren sozialer Errungenschaften durch die Agenda 2010 als Vorbild für das sogenannte Austeritätsregime in Griechenland, Spanien, etc. dient, ist die Grundlage für das nächste Austeritätsregime nach Innen bereits gelegt: Wenn es in Südeuropa ohne Arbeitsschutz, Sozialversicherung und mit 600€ Lohn im Monat geht, dann muss das auch hierzulande drin sein, um in der globalen Konkurrenz durchzuhalten. Die damals von einer „linken“ Regierung nicht ganz ohne Widerspruch eingeführte antisoziale Politik Agenda 2010 wird so im Zuge der Krise nachträglich zu einer Erfolgsstory. Dass es vor diesem Hintergrund in anderen Ländern überhaupt zu Protesten kommt, mag aus der deutschen, sich mit jeder Staatsräson identifizierenden Perspektive verwundern. Man liest von Streiks und Straßenkämpfen wie aus fernen Galaxien. Die hiesige Interessensvertretung der Arbeiter*innen, die Gewerkschaften, scheinen mit ihren südeuropäischen Genoss*innen nicht mehr als die Bezeichnung gemeinsam zu haben. Sie legitimieren ihre zahmen Forderungen gegenüber den Mitgliedern mithilfe der Standortkonkurrenz und pflegen ihre alte Tradition korporatistischer Zusammenarbeit mit dem deutschen Kapital. Was 1918 mit der Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) begann, als sich Gewerkschaften und Industrielle zur Stabilisierung der kapitalistischen Eigentumsordnung gegen Forderungen der Novemberrevolution zusammenschlossen, im NS zum Staatsprogramm wurde und in den 60ern in der konzertierten Aktion quasi als Einheitsfront der Gewerkschaften und Kapitalist*innen fortgeführt wurde, zeigte sich auch wieder in der aktuellen Krise: „Die Lokomotive Deutschland stößt ordentlich Rauch aus und ist auf Touren“, wie die IG-Metall im Jahr 2012 in Sorge um ein „krisenfestes Deutschland“ verlautbaren ließ. Wie sehr sich die DGB-Gewerkschaften dem Standortnationalismus verschrieben haben, zeigen deren halbherzige Aktionen und Solidaritätsbeteuerungen zum europäischen Aktionstag N14 im November 2012: Während in Spanien und Portugal Millionen die Arbeit niederlegten und auf die Straße gingen, in Frankreich mehr als 130 Arbeitsniederlegungen stattfanden, in Belgien Bahn und Flugverkehr zum Erliegen kamen, gingen in Deutschland nur ein paar hundert Menschen auf die Straße, wobei selbst bei diesen kleineren Aktionen die Gewerkschaften oft nicht beteiligt waren. Durch diesen in Europa speziellen Korporatismus können die Gewerkschaften zu Recht von sich behaupten, signifikant dazu beigetragen zu haben, dass in „Europa deutsch gesprochen“ wird.

Das neoliberale Credo „There is no alternative“ liest sich aus dieser Perspektive wie die Reaktivierung der alten deutschen Bedrohlichkeit: erst unter Rot-Grün, dann der Führung der Großen Koalition, nun unter Schwarz-Gelb findet die deutsche Gemeinschaft zu ihren Essentials zurück. Merkel kann als beliebteste Politikerin Deutschlands unwidersprochen behaupten, dass die Demokratie marktkonform sein müsse und in Italien und Griechenland werden unter deutscher Führung Technokratien installiert; die SPD schielt auf die Zustimmung einer antikapitalistisch bestäubten Öffentlichkeit, die darunter doch nichts anderes versteht als eine Kritik an Bankern, Finanzkapital und anderen bösen Mächten. Eine gesellschaftlich relevante Perspektive emanzipatorischer antikapitalistischer Politik ist in Deutschland derzeit nicht sichtbar. Die Einführung der Finanztransaktionssteuer und gelegentliches Nörgeln über Heuschrecken, Haifische, Raub- und sonstige Tiere stehen in einer deutschen Tradition des Antikapitalismus. Die gängigen Erklärungsversuche der Krise zielen folgerichtig auf die Beschneidung der Auswüchse des Kapitalismus wie sie im Bankensektor und Spekulant*innentum sichtbar sein sollen. In diesen regressiven Deutungen findet sich die deutsche Mehrheit genauso wie die deutsche Politik. Der Fall Zyperns, bei dem es galt, Deutschland vor den, auch noch russischen!, Finanzkapitalist*innen auf der Mittelmeerinsel zu retten, hat gezeigt, wie fruchtbar diese Ideologien für die deutsche Krisenpolitik sein können.

Die Rede von der „Tyrannei der Märkte“, die Schuld an der Misere der Weltwirtschaft seien, reiht sich in diese Art der Verklärung der Krise ein. Wenngleich die Krise in Teilen der Finanzmärkte an die Oberfläche trat und von dort aus ihre Entwertungskreise zog, liegt ihre Ursache tiefer begründet, nämlich in der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Die derzeitige Krise ist Folge einer Überakkumulation: „zu viel“ Kapital ist auf der Suche nach den selten gewordenen profitablen Investitionsmöglichkeiten und wird schließlich in verschiedenen Finanzprodukten angelegt. Dies führte schließlich zur Entstehung von Blasen wie der Dotcom-Blase der Hightechindustrie im Jahr 2000/2001 und der Häuserblase im Jahr 2007. Die genannten Blasen bildeten sich wohlgemerkt erst aufgrund der Unmengen von Kapital, welches nun eben keine im ausreichenden Maße profitablen Investitionsmöglichkeiten mehr finden kann. Es gehört zur strukturellen Absurdität der kapitalistischen Ökonomie, dass ihr Erfolg, die Anhäufung von Kapital, notwendig ihr Scheitern, die krisenhafte Entwertung, nach sich zieht.

Fokussiert man in der politischen Reaktion und Kritik aber einseitig auf die Kontrolle der Finanzmärkte, liegt dem nicht nur eine unzutreffende Analyse zu Grunde, sondern es zeigt sich darin auch ein struktureller Antisemitismus. Dieser äußert sich als Aufspaltung der Wirtschaft in Finanz- und Produktivkapital, wobei ersteres mit konkreten Personen identifiziert und für das Leid der Massen verantwortlich gemacht wird. Letztlich bleibt die gesamte Krisenbetrachtung also einer Denkform verhaftet, die die Unsinnigkeit der kapitalistischen Ökonomie nationalistisch verklärt und einer schlechten deutschen Tradition des ‚Antikapitalismus‘ verfällt.

Antinationale Solidarität statt deutsche Disziplin

Die Staatsräson der immer schärfer werdenden Zurichtung des Individuums für die kapitalistische Produktionsweise durch Jobcenter, Polizei und Ausländerbehörde – um weiterhin im Standortwettbewerb die Nase vorn zu haben – wird derweil vorangetrieben. Weder die vermeintliche Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU mittels der Zerstörung der Reproduktionsgrundlagen der südeuropäischen Gesellschaften noch begrenzte Managergehälter werden an den Ursachen der kapitalistischen Krise etwas ändern. Ihre Folgen werden durch die derzeitige Politik stattdessen noch vergrößert. Dass selbst die Faschisierung Griechenlands hierzulande keinen Aufschrei wert ist zeigt, wie versöhnt die deutsche Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit ist. Die nationalistische Ideologieproduktion hat in der Krise ganz im Gegenteil die Folge, die alten Charakteristika der Nationalstaaten zu aktualisieren: Der Staat und mit ihm die Gesellschaft kämpfen entlang ökonomischer Verwertbarkeit um nationale Homogenisierungen und Eindeutigkeiten. Migrant*innen fallen aus dem Kollektiv und werden, wie in Deutschland aktuell besonders Sinti und Roma, abgeschoben; Transpersonen werden wie in Griechenland verhaftet und zwangsweise entwürdigenden medizinischen Behandlungen unterworfen. Der Nationalstaat kann aber niemals Akteur oder Adressat einer Krisenlösung sein, denn er ist selbst die Bedingung der globalen kapitalistischen Konkurrenz. Es kann nur der Schluss gezogen werden, dass die Flucht in die Nation überall und immer falsch ist. Mehr noch: Die Identifikation mit dem eigenen nationalen Wirtschaftsstandort ermöglicht erst das andauernde Prozessieren der kapitalistischen Krise. Im Staat mit seinen vielfältigen Disziplinierungsinstanzen, seiner nationalistischen Ideologieproduktion und seinem Gewaltmonopol, welches er im Bedarfsfall immer bereit ist zuungunsten des säumigen Schuldners zu mobilisieren, um ihn aus seiner Einzimmerwohnung zu prügeln, in diesem deutschen Staat sehen wir einen notwendigen Angriffspunkt antikapitalistischer Kämpfe. Der alte Slogan „der Feind steht im eigenen Land“ muss verändert werden: Der Feind ist das eigene Land sollte es heißen, um endlich die Bedingungen anzugreifen, die die durch Ausbeutung befeuerte Exportlokomotive Deutschland möglich gemacht hat und welche nun überall in Europa durchgesetzt werden.