Wenn ein paar Kennziffern durch die Decke schießen

Kapitalistische Planung soll möglichst effizient, das heißt möglichst gewinnbringend, den Akkumulationskreislauf aufrechterhalten. Im Zuge dieses Kreislaufes kommt es unter den Bedingungen von Konkurrenz und grundsätzlicher Unsicherheit, ob sich das betriebliche Gewinnmodel als erfolgreich erweist, gesamtwirtschaftlich immer wieder zu Überakkumulation. Das heißt zu viel Kapital ist auf der Suche nach lukrativen Investitionsmöglichkeiten.
Not macht erfinderisch. So wurden Versprechen auf zukünftige Versprechen auf Versprechen versprochen und dabei vor ein paar Jahren vor allem in Hypothekenkredite investiert. Dabei haben sich ein paar Leute mit der Risikoabschätzung ein klein wenig vertan. Und wie schon manchmal in der kapitalistischen Geschichte spielte fortan der gesamte Kalkulationsprozess verrückt. Die Prognosen wurden schwieriger, das Vertrauen in sie sank. Die betroffenen Akteure machten nun das einzige, was sie ohne ihre Kalkulationsmechanismen tun konnten: nichts.
Keine Kredite mehr geben, keine Investitionsentscheidungen mehr treffen, keine Aufträge mehr vergeben. Das nennt sich dann Wirtschaftskrise, Kapitalanhäufungen lösen sich in Luft auf.
Einmal in Schwung gerieten immer weiter Mechanismen aus dem Tritt. In Europa wurde das Risiko von Staatsanleihen von bestimmten Staaten neu berechnet, die Zinsen der Anleihen stiegen und die Staaten waren somit plötzlich überschuldet. Das Kapital verhält sich wie ein scheues Reh. Die stattgefundene Kapitalvernichtung in der Finanzkrise, aber auch geringe Möglichkeiten für profitable Anlagemöglichkeiten erschreckten es zutiefst.

Öl ins Getriebe schütten

Krise im Kapitalismus heißt natürlich erstmal eins: den Menschen mit geringen Einkommen geht es noch schlechter, als es ihnen ohnehin schon geht. Die Menschen mit hohen Vermögen haben zwar auch einige Gespräche mehr mit ihren Anlageberatern und müssen eventuell das Chalet in St. Moritz veräußern, aber solange an der grundsätzlichen Eigentumsverteilung und -ordnung nichts geändert wird, müssen sie sich keine größeren Sorgen machen.
Denn das in Europa durchgesetzte Austeritätsregime verfolgt das Ziel, das Vertrauen der Märkte wiederherzustellen und die Nationalökonomien in einen Zustand zu versetzen, indem die zugehörigen Staaten wieder als kreditwürdig eingestuft werden. Denn ohne Kredite läuft im entwickelten Kapitalismus nichts, da brummt die Maschine nicht. Dies hält die extrem ungleiche Vermögensverteilung nicht nur aufrecht, sondern verschärft sie sogar.
An bestimmten Punkten muss allerdings eingegriffen werden, weil die staatliche Verfasstheit die abstrakte Kalkulation und Besitzzuschreibung nicht mehr restlos verteidigen kann. Griechenland erklärt zum Beispiel für bestimmte Kredite einen Zahlungsausfall. Dieser Eingriff in die kapitalistische Eigentumsverhältnisse wird mit einer radikalen kapitalistischen Umstrukturierung Griechenlands und der anderen angeschlagenen Ländern abgegolten. Die absolute Wahrheit, die die Märkte verkünden, soll nicht in Frage gestellt werden.

In Europa wird wieder Deutsch gesprochen

In Deutschland werden die kapitalistische Zwänge vom disziplinierten Nationalkollektiv weitgehend akzeptiert. Rot-Grün hatte unter Schröder die kapitalistisch notwendige Abschaffung des überkommenen Wohlfahrtsstaats schon vor Jahren in die Wege geleitet. Da ist es aus Sicht des deutschen Volkes nur Recht, wenn nun auch „die Griechen“ sich den Anforderungen der Märkte und Kapitalgeber_innen anzupassen haben. Die Sorge der deutschen Öffentlichkeit gilt deswegen auch zunächst dem Geld der „Steuerzahler_innen“, welche jetzt offenbar nicht mehr nur über Warentausch und Kapitalverkehr, sondern überraschenderweise auch politisch-finanziell mit anderen Ländern verbunden sind.
Deutschland ist aufgrund spezifischer Bedingungen (großer Industriesektor, hohe Produktivität, sinkende bis stabile Löhne) als fast einziges EU-Land bisher nicht stark von der Krise betroffen. Deutschland sieht sich selbst als Modell für eine wettbewerbsfähige Nationalökonomie und forciert die Durchsetzung dieses Modells in Europa. Dies wird von den herrschenden Eliten in vielen Ländern begrüßt. Die maßgeblich von der Regierung Schröder/Fischer initiierten Reformen werden nun auch anderen europäischen Staaten als Kur gegen die wirtschaftliche Misere verschrieben.
„Der Deutsche“ fühlt sich in der Krise bestätigt und anderen „Nationen“ überlegen. Er fühlt sich als fleißiger und arbeitsamer. Damit wird die Krise als Überlebenskampf in der nationalen Konkurrenz umgedeutet. Der Angriff auf die Gesellschaften unter dem Mantra der Wettbewerbsfähigkeit wird hier als begrüßenswertes Leid für die schwächeren Nationen bzw. Menschen gesehen.

Liveticker !

Ratingagenturen, Liquiditätspolitik und Marktentwicklungen erscheinen als abstrakt-fern. Das Gefühl der Ohnmacht angesichts von Verwertungslogiken, welche dem Einzelnen aus dem kapitalistischen Normalzustand wohlbekannt sein sollte, verstärkt sich in der Krise. Darauf antwortete das Subjekt zunächst mit einer Verortung der Abstraktion in einzelnen Akteuren der kapitalistischen Binnenrationalität, sprich „die Banken“ oder „Europa“.
Die herrschende Politik nutzt diese Ohnmacht. Sie installiert Technokratien, welche die Alternativlosigkeit der Austeritätspolitik implementieren. Sie ignoriert Generalstreiks und Großdemonstrationen um zu zeigen, dass sie der kapitalistischen Binnenlogik folgt, auch wenn sie damit gesellschaftliche Instabilität in Kauf nimmt. Staatsbürger_innen sind auch in der normalen kapitalistischen Demokratie nur marginal an Entscheidungsprozessen beteiligt. Aber selbst diese formale Beteiligung wird ausgehebelt.

Echte Technokratie jetzt !

Die eklatanten Ausschlüsse und Hierarchisierungen, die der bürgerlichen Demokratie eingeschrieben sind, und ebenso ihre Funktionen der gesellschaftlichen Legitimation und sozialen Beschäftigung sind offensichtlich. Die Sphäre politischer Subjektivierung muss aber in eine Analyse der Krisenprozesse mit einbezogen werden. Wer von Technokratien redet und die Untergrabung bisheriger demokratischer Verfasstheiten beklagt, kann sie nicht vollständig aus einem funktionalen Zusammenhang ökonomischer Verwertbarkeit heraus erklären. Die Kritik an den zunehmend autoritären Krisenregimen und die Benennung des Konflikts zwischen „Demokratie“ und kapitalistischer Wirtschaft bezieht sich implizit auf ein egalitäres und emanzipatorisches Element des Demokratischen. Dessen politische Marginalisierung im bürgerlichen Staat und die Subsumierung unter die Anforderungen der Verwertbarkeit spitzen sich in der derzeitigen Krise zu.
Der Generalstreik in Spanien wurde vom spanischen Ministerpräsidenten vorhergesagt und einkalkuliert, die Occupyproteste in Deutschland als mediales Ereignis ohne jedes Ergebnis gefeiert. Es wirkt nun vor diesem Hintergrund so, als würden Menschen auf die Straße gehen, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass irgendetwas in dieser Gesellschaft von Menschen bestimmt werden könnte.
Doch es gibt noch immer Raum für eine radikale politische Praxis, welche sich der kapitalistischen Logik verweigert und das Projekt der politischen Emanzipation vorantreibt. Dabei sollte es nicht um sozialdemokratische Reformen im Staatsgefüge gehen, sondern um eine Verschiebung von Kräfteverhältnissen und um Brüche in der Verwertungslogik.
Eine radikale Kapitalismuskritik muss sich davor hüten, den Kapitalismus als unangreifbares Prinzip in ein abstraktes Jenseits zu verlegen und damit jedwede revolutionäre Praxis theoretisch unmöglich zu machen.
Die Proteste am 31. März sind ein Beispiel wie eine antikapitalistische Praxis, die trotz aller Beschwörungen in den letzten Jahren auf der Straße kaum sichtbar war, aussehen könnte. Es ist ein wichtiger Schritt, dass hierbei Aktionen in mehreren europäischen Städten zeitgleich und abgestimmt stattfinden. In Zeiten supranationaler Staatengebilde und transnationaler ökonomischer Verflechtungen muss der Protest den nationalen Rahmen zunehmend hinter sich lassen. Die Demonstration kann dabei nur der Startpunkt einer Vernetzung und Verständigung sein, wie eine kontinuierliche Arbeit gegen die kapitalistische Logik aussehen kann. Dabei müssen neoklassische Wirtschaftserklärungen als bessere Form der Alchemie entlarvt werden und die Legitimität des Kapitalismus angegriffen werden.
Der Aktionstag könnte in einem Klima aus Angst und Ohnmacht ein ermutigender Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Rückkehr des Politischen sein.