Der folgende Text ist Teil unseres Dossiers zu internationalen Perspektiven und Solidarität in der Corona-Krise.

Statement von Alex (Katalonien)

Ich schreibe diesen Text am 35. Tag des vom spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez ausgerufenen Alarmzustandes. In einem Dorf in Katalonien, nicht weit von Barcelona, in diesen Tagen aber gefühlte Lichtjahre entfernt. Ich beschreibe Eindrücke hier aus dem Dorf, die Informationen aus Barcelona beruhen auf Telefonaten mit Freund*innen und Aktivist*innen vor Ort, Lektüre (linker) Tageszeitungen und sozialer Netzwerke.

Es ist Tag 35 in den gleichen vier Wänden, in unserem Fall glücklicherweise mit Garten. Tag 35 an dem nur notwendigste Einkäufe in dem am nächsten zum Wohnsitz gelegenen Supermarkt erlaubt sind, an dem zwar der Hund zum Gassi gehen auf die Straße gebracht, aber kein Kind die Wohnung verlassen darf.

Fünf Wochen, in denen offiziell mehr als 20.000 Menschen dem Virus zum Opfer gefallen sind, Spanien auf Platz 2 der registrierten Infizierungen weltweit liegt, in denen die durch Austeritätspolitik und Privatisierung kaputtgesparten Gesundheitssysteme schon kurze Zeit nach dem Ausbruch des Virus kollabiert sind und die Angestellten im Gesundheitsbereich keine Atempause hatten.

Die Covid-19 Krise hat alle Bevölkerungsgruppen erfasst und unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Es sind lange Wochen gefüllt mit schrecklichen Bildern von Leichenfunden in Altenheimen und ständig steigenden Infiziertenzahlen. Mit schlechtem und intransparentem Krisenmanagement von Seiten der Regierung in Madrid, einer Koalition aus Sozialdemokraten und der „Links“partei Podemos, bei der jetzt die alleinige Entscheidungsgewalt liegt. Derweil schläft die Opposition, bestehend aus dem rechtskonservativen Partido Popular, der rechtsextremen VOX und den rechts-neoliberalen Ciudadanos nicht und nutzen jeden Patzer der Regierung für ihre Propaganda.

Das Land befindet sich im „Krieg gegen den Virus“, alle verfügbaren Polizei- und Militäreinheiten patrouillieren auf den Straßen und Plätzen um etwaige Verstöße gegen die Ausgangssperre mit Geldstrafen von bis zum 600,-Euro zu ahnden. Konkret heißt das, dass wir für jeden Gang zum Supermarkt den Ausweis mitführen müssen sowie einen ausgefüllten Vordruck, in dem wir die unbedingte Notwendigkeit des Einkaufs versichern. Die Polizei, die auch bei uns im Dorf ständig präsent ist, hat das Recht jeden jederzeit anlasslos zu kontrollieren und tut dies auch.

Vergleichbare Zustände sind vor allem der älteren katalanischen Bevölkerung noch gut bekannt. Die Erinnerung an die Dikatur Francos, die mit einer umfassenden Kontrolle der Bevölkerung einherging und bis ins Jahr 1975 andauerte, ist noch sehr lebendig.
Menschenrechtsorganisationen wie das Zentrum zur Verteidigung der Menschenrechte (Irídia) in Barcelona dokumentieren landesweit Fälle von Polizeigewalt in Zeiten des Alarmzustandes und berichten über eine Zunahme von brutalen Übergriffen und Festnahmen wegen angeblicher Verletzung der Ausgangssperre sowie gezielten Kontrollen migrantischer Menschen.

Der Feind scheint neben dem Virus die eigene Bevölkerung zu sein. Eine Bevölkerung, für die die Corona Krise zum Überlebenskampf werden wird, schon jetzt sind die offiziellen Zahlen derjenigen, die ihre Arbeit verloren haben höher als in der Wirtschaftkrise von 2008. Ganz zu schweigen von den vielen Menschen, die zuvor ihren Lebensunterhalt durch Arbeiten im informellen Sektor, als Hausangestellte, Reinigungskräfte, Erntehelfer*innen, Strassenhändler*innen oder Sexarbeiter*innen verdient haben und nun ausschließlich Dank Spenden solidarischer Initiativen überleben können. Vor dem Virus sind nicht alle gleich.

Da der öffentliche Raum als Ort der Begegnung und Artikulation von Protest nicht mehr existiert – wie weit weg erscheint der internationale Frauen*streiktag 8. März, an dem wir mit Hunderttausenden die Straßen Barcelonas mit unseren Forderungen gefüllt haben – sind die Balkone zu Orten der Meinungsäußerung geworden und geschmückt mit politischen Forderungen: Aufrufen zum Mietstreik, #LeaveNoOneBehind, aber auch Danksagungen ans Gesundheitspersonal.

Die Krise bringt landesweit aber auch tausende von solidarischen Initiativen hervor und es gibt bis ins kleinste Dorf basisorganisierte Unterstützungsnetzwerke. Besonders beeindrucken mich die im folgenden beschriebenen Gruppen aus Barcelona, die ihre Arbeit mit konkreten politischen Forderungen flankieren.

Die Krise 2008 und die daraus resultierende Bewegung 15M (Abkürzung für 15. Mai 2011, an dem die landesweiten Proteste gegen die Austeritätspolitik begannen) haben in Barcelona und anderen Städten Nachbarschaftsnetzwerke hervorgebracht, die jetzt im Rahmen der Covid-19 Krise enormen Zulauf haben. Ein Freund aus dem Stadtteil Poble Sec in Barcelona erzählt, dass sich innerhalb von drei Wochen über 500 Freiwillige im Netzwerk gegenseitiger Hilfe „Red apoyo mutuo“ zusammengeschlossen haben. Unterstützt werden Menschen aus der Nachbarschaft, die z.B. nicht ihre Wohnungen verlassen dürfen um einzukaufen oder den Hund auszuführen, da sie einer Risikogruppe angehören. An das Projekt angegliedert ist eine „Foodbank“, in der Lebensmittel gesammelt und an Bedürftige verteilt werden. Ein Team von Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen berät zu medizinischen Fragen, die sogenannte „Nachbarschaftsgewerkschaft“ berät zum Thema Aussetzung von Mietzahlungen. Ein Mietstreik läuft seit dem ersten April.

Ähnlich arbeitet das „Antirassistische Solidarnetzwerk“ in Barcelona, allerdings mit Fokus auf die migrantischen Community. In Spanien leben über 600.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, von denen viele ihre Existenz als Hausangestellte bei wohlhabenderen spanischen Familien, in der Versorgung alter Menschen, saisonal als Erntehelfer*innen oder als Strassenhändler*innen sichern und nun ohne irgendeinen rechtlichen Anspruch auf Lohnfortzahlung darstehen. Die Bewegungsfreiheit dieser Menschen ist aufgrund ihrer fehlenden Papiere und Dichte der polizeilichen Kontrollen extrem eingeschränkt. Über 150 Familien werden über dieses Netzwerk versorgt. Auch juristische und psychologische Begleitung sind Teil des Angebots. Das Netzwerk hat grade mit 820 weiteren antirassistischen Gruppen die Legalisierungs Kampagne #RegularizacionYa ins Leben gerufen.

Sehr konkret ist auch die Arbeit der „Gewerkschaft der Straßenhändler*innen in Barcelona“, die normalerweise in ihrem Ladenlokal Kleidung ihrer Marke „Top Manta“ produzieren und/oder vom Straßenverkauf an Tourist*innen leben. Die umgangssprachlich „Manteros“ (von Manta, Spanisch für Decke, auf denen sie ihre Waren anbieten) genannten Verkäufer gründeten 2015 eine eigene Gewerkschaft. Ziel war es, mit der Barcelonesischen Stadtverwaltung die Legalisierung ihrer Arbeit und damit ein Ende der gegen sie gerichteten Razzien zu verhandeln. In ihren Diskursen verweisen sie immer wieder auf die kolonialen Kontinuitäten in der Spanischen und Europäischen Politik. Momentan unterstützen sie hunderte von Familien aus ungesicherten prekären Arbeitsverhältnissen (Straßenhandel, Care-Bereich…) mit Lebensmitteln, ausserdem nähen sie in ihrem Atelier dringend benötigte Schutzkleidung für den öffentlichen Gesundheitssektor.

Dies sind nur drei Beispiele praktischer Solidarität, in denen konkrete Unterstützung für die am meisten von der Krise Betroffenen geleistet wird und gleichzeitig die Ursprünge der Krise klar benannt werden: Privatisierungen im Gesundheitssystem, Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, Fortsetzung kolonialer Praktiken, kurzum ein neoliberales Modell, das alle Lebensbereiche durchdrungen hat.

Die konkreten Forderungen, die in diesem Kontext aufgestellt werden, wie Legalisierung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus, mehr Anerkennung und höhere Entlohnung von Pflegeberufen und Hausangestellten, Aussetzung von Mietzahlungen, bedingungsloses Grundeinkommen, Kommunalisierung von Krankenhäusern etc. stoßen in dieser Situation auf starken Widerhall in der Bevölkerung. Ein Hoffnungsschimmer, dass in Post-Corona Zeiten nicht alles wieder einfach zur Normalität zurückkehrt, weil die Normalität für sehr viele schon immer Krise bedeutet hat.

Wenn Ihr könnt, unterstützt die Initiativen mit Spenden!

Antirassistische Solidarnetzwerk
Account holder: Víctor Hugo Cuellar Mauriel
IBAN: ES61 1465 0120 31 1709799308
Concept: Food Bank Donation
https://redantirracistacuidados.wordpress.com

Gewerkschaft der Straßenhändler*innen in Barcelona
Account holder: Asociación Popular de Vendedores Ambulantes de Barcelona
IBAN: ES22 3025 0001 1614 3359 2200
Concept: Food Bank Donation
oder PAYPAL: proyectotopmanta@gmail.com