Der folgende Text ist Teil unseres Dossiers zu internationalen Perspektiven und Solidarität in der Corona-Krise.
Anonymes Statement (Rom/Italien)
Wir befinden uns in Italien in der fünften Woche des landesweiten Lockdowns. Lockdown bedeutet hier, dass die Menschen ihre Wohnungen nur noch in Ausnahmenfällen und zum Kaufen von Lebensmitteln verlassen dürfen. Die folgenden Punkte scheinen mir für einen emanzipatorischen Blick auf die Ereignisse wichtig:
- Eine Linke ohne soziale Zentren
Die Linke hier wurde, wie fast alle Menschen, von den Ereignissen komplett überrascht und überrumpelt, sicherlich auch, weil Italien das erste Land in Europa war, dass so stark von der Epidemie betroffen war. Auch die sozialen Zentren, die in Italien die zentrale Rolle für die Organisierung der undogmatischen, außerparlamentarischen Linken bieten, mussten mit sehr wenig zeitlichem Vorlauf schließen. Damit fiel für die meisten Linken erstmal ein zentraler Ort der politischen Auseinandersetzung, der Kollektivität und Organisierung weg. - Home Office ist ein Privileg!
Als am 9. März per Dekret der landesweite Lockdown verhängt wurde, gab es eine bemerkenswerte Ausnahme: Während alle Menschen strikt zuhause bleiben sollten, wurde der industrielle Sektor von diesen Maßnahmen weitestgehend ausgenommen. Hiergegen formierte sich schnell eine breite Arbeiter*innenbewegung, Belegschaften traten in den Streik. Der Zynismus der Regierung war zu offensichtlich: Während sich Leute zuhause schützen sollten, wurde von Arbeiter*innen erwartet, sich in der Produktion einem Infektionsrisiko auszusetzen. Das oft zitierte Home Office ist eben ein Privileg, zu dem viele Leute keinen Zugang haben. Die Aktionen hatten Erfolg: gegen die Interessen des mächtigen Industrieverbands wurden die Regeln insofern verschärft, dass nun auch viele Arbeiter*innen zuhause bleiben konnten. - Solidarische Strukturen schaffen
Nach einer Orientierungsphase schafften es spontan erschaffene Strukturen von Nachbar*innen, Netzwerke der gelebten Solidarität aufzubauen, um die schlimmsten Folgen der aktuellen Situation abzufedern. Diese reichen von Nachbarschaftsinitiativen, die Essen in Körben auf die Straße stellen bzw. an Balkone hängen, bis hin zu größeren Netzwerken, die essentielle Produkte an Leute in Not verteilen. Diese selbstorganisierten, solidarischen Strukturen sind ein Lichtblick für viele in dieser schwierigen Zeit. - Wut statt Singen auf dem Balkon
Insbesondere im Süden Italiens arbeiten viele Menschen nicht in ‘formellen’ angemeldeten Lohnarbeitsverhältnissen, sondern ohne jegliche soziale Absicherung. Durch die Krise sind die meisten dieser Jobs weggefallen und die Leute haben keinen Zugang zu den Hilfsprogrammen der Regierung. Nach vier Wochen zuhause wächst bei sehr vielen Menschen täglich die Sorge um ihre Zukunft. Wie groß die materielle Verzweiflung vieler ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass es in Palermo bereits zu Supermarktplünderungen kam. - Autoritäre Zuspitzung bekämpfen
Obwohl die Situation für viele extreme Belastungen bringt, werden die Einschränkungen angesichts der Risiken der Coronaepidemie grundsätzlich auch von der großen Mehrheit der Linken als richtig und notwendiges Übel betrachtet. Dringendste Aufgabe der Linken in Italien wird es nun sein, die autoritären Zuspitzungen anzugreifen, die sich bereits jetzt stark bemerkbar machen. So ist ein immer willkürlicheres und repressiveres Vorgehen der Polizei bei der Durchsetzung des Lockdowns beobachtbar. Die Überwachung per Drohnen und Hubschraubern hat zum Beispiel nur noch wenig mit der Corona-Prävention zu tun, sie ist vielmehr Ausdruck der Durchsetzung eines autoritären Staates. - Feministische Antworten finden
Schreckliche Folgen der hässlichen Quarantäne, insbesondere die Zunahme patriarchaler, sexualisierter Gewalt und psychischer Erkrankungen, werden von der bürgerlichen Presse und Politik in Italien momentan nahezu komplett ausgeblendet. Sie müssen dringend aus einer feministischen Perspektive thematisiert und konkrete Unterstützung für Betroffene Menschen entwickelt werden.
In den nächsten Wochen wird Italien in die sogenannte ‘Phase 2 – Leben mit dem Virus‘ eintreten. Die ersten Stellungnahmen der Regierung hierzu lassen nichts Positives erahnen: Während die Leute wieder arbeiten und konsumieren sollen, werden soziale Kontakte weiterhin eingeschränkt sein. Dies wird es auch weiterhin erschweren, politischen Protest zu organisieren. Es ist nun an uns dafür zu sorgen, dass die für viele Menschen katastrophale ökonomische Situation nicht ausschließlich von rechts beantwortet wird.