In der Corona-Krise wird viel von Solidarität gesprochen. Nachbarschaftsgruppen vernetzen sich. Es gibt Gabenzäune und Online-Petitionen. Gleichzeitig bestehen die strukturellen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft fort und spitzen sich sogar noch zu.

Diese Ungerechtigkeiten zeigen sich im Umgang mit wohnungs- und obdachlosen, illegalisierten und geflüchteten Menschen. Diejenigen, deren zu Hause der öffentliche Raum ist, sind von den aktuellen Maßnahmen besonders getroffen. Wo sollen jene hin, die kein zu Hause haben? Oder jene, deren Isolation mit Hunderten anderen in Heimen stattfindet? Geflüchtete werden oftmals gezwungen in ihren Gemeinschaftsunterkünften zu bleiben, wo es gemeinsame Badezimmer gibt und keine Möglichkeit zum „Social Distancing“. Die Gefahr sich zu infizieren ist in einer solchen Unterkunft besonders groß.
In dieser Hinsicht zeigt sich die Widersprüchlichkeit, dass Geflüchtete in Bremen gegen ihre Unterbringung demonstrieren und die Polizei Strafanzeigen gegen diese wegen des Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz stellt. In der Zentralen Erstaufnahme in Halberstadt sind Menschen seit dem 4.4. in Hungerstreik getreten, um auf die katastrophale Situation vor Ort aufmerksam zu machen. Nachdem ein Bewohner positiv auf Corona getestet wurde, wurden alle 850 Bewohner*innen unter Quarantäne gestellt.

Von oben und unten…

In dieser Situation gibt es viele solidarische Ansätze. Überall in Berlin entstehen sogenannte „Gabenzäune“ zur Unterstützung von wohnungs- und obdachlosen Menschen. Diese ermöglichen eine risikoarme und kontaktlose Übergabe von Hilfsgütern. Gleichzeitig gibt es aber auch Schwierigkeiten dieser Ansätze. Die „Gabenzäune“ richten sich vorrangig an wohnungslose Menschen und bauen damit eine gewisse Hierarchie der Bedürftigkeit auf. Es gibt aber auch sehr bedürftige Menschen, die nicht wohnungslos sind. Jene, die gerade nicht wissen, wie sie ihren Kindern das fehlende Mittagessen aus der Kita ersetzen sollen oder für die soziale Isolation auch gesellschaftlicher Ausschluss bedeutet, werden nicht gesehen.
Der Staat sorgt sich rührend um große Unternehmen und um die Dividenden der Aktionär*innen. Und gleichzeitig gibt es „Gabenzäune“, weil die Ausgeschlossenen nicht genug zum Überleben haben.

Das Coronavirus unterscheidet nicht zwischen Klasse, Nationalität oder Geschlecht. Aber es ist selbstverständlich, wer mit Sicherheit einen Test und eine entsprechende Behandlung bekommt – und wer sehen kann, wo mensch bleibt. Corona ist wie ein Vergrößerungsglas für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Die europäische Abschottungspolitik zeigt in Pandemiezeiten noch offensichtlicher ihre Brutalität: Massenunterkünfte bzw. -lager/knäste in der EU und Zeltlager an den europäischen Außengrenzen sind besonders anfällig für eine massive Ausbreitung des Corona-Virus. Die Bewohner*innen sind dort einer großen Gefahr ausgesetzt. Sie haben nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Die unhygienischen Zustände und polizeiliche Repression aushalten, irgendwie überleben oder zurück zu Krieg und ebenso unhygenischen Zuständen. Wir schließen uns daher der Forderung von Mission Lifeline an, eine Luftbrücke nach Berlin zu ermöglichen und die Lager in Moria, Chios und anderswo zu evakuieren.

Eine weitere Gruppe, die unter den aktuellen Umständen in ihrer Existenz bedroht sind, sind Sexarbeiter*innen. Die Schließung von Bordellen und das Kontaktverbot bedeutet für Sexarbeiter*innen faktisches Arbeitsverbot, wenn sie nicht auf Camservices oder digitale Angebote ausweichen können. Besonders hart trifft es Sexarbeiter*innen, die nicht über Rücklagen verfügen, weil sie schon vor Corona von Armut und rassistischen Verhältnissen betroffen waren. Das für viele notwendige Weiterarbeiten in der Illegalität bedeutet nicht nur weniger Einkommen und ein großes Risiko, sich mit Covid-19 zu infizieren, sondern auch gefährliche und potenziell gewaltförmigere Situationen. Für jene, die nicht auf die Soforthilfen für Selbständige zugreifen könnne, hat Hydra e.V. einen Notfallfonds eingerichtet.

Solidarität heisst Sichtbarkeit schaffen

Hände waschen, auf die Kneipe mit Freund*innen verzichten und Social Distancing zum Schutz von Risikogruppen ist sinnvoll. Aber wir stellen die Frage, wer als Risikogruppe wahrgenommen wird – und wer aufgrund rassistischer, sexistischer und klassisticher Zuschreibungen unsichtbar gemacht wird – oder vergessen. Von Corona sind in den USA besonders People of Color betroffen und in Rumänien Romn*ja. Das ist kein Zufall. Corona bedroht vor allem die Menschen mit dem Tod, die schon vorher aus dem Gesundheitssystem ausgeschlossen waren.

“Solidarity does not assume that our struggles are the same struggles, or that our pain is the same pain, or that our hope is for the same future. Solidarity involves commitment, and work, as well as the recognition that even if we do not have the same feelings, or the same lives, or the same bodies, we do live on common ground.” (Sara Ahmed)

Solidarität ist verbunden mit Arbeit, mit Verantwortungsübernahme, aber auch Anerkennung unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionierungen. Solidarität beruht auf dem Verständnis, dass füreinander eingestanden werden sollte, besonders in einer von Ungleichheit strukturieren Gesellschaft. Und das jenseits eines Diskurses, in dem die einen vermeintlich mitfühlend geben und andere nehmen.

Auch wir schließen uns der Forderungen so vieler anderer an, solidarisch zu bleiben – und politische Forderungen weiter lautstark zu skandieren:

  • Wohnraum für alle! Menschen, die in Lagern oder auf der Straße leben, Zugangsmöglichkeiten zu Hotels und Pensionen geben!
  • Corona-Soforthilfen für alle! Geldleistungen statt Charity!
  • #leavenoonebehind! Geflüchtete aus Lesbos aufnehmen! Moria evakuieren! Lager schließen!