Der folgende Text ist Teil unseres Dossiers zu internationalen Perspektiven und Solidarität in der Corona-Krise.
Statement von François (Paris/Frankreich)
Der französische Umgang mit der Corona-Krise bringt zwei längerfristige, sehr problematische politischen Tendenzen zum Ausdruck.
Erstens, einen autoritären Etatismus, der seinen Bürger*innen oftmals ohne jegliche zivilgesellschaftliche „Rückkoppelung“ nicht nur vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben. Darüber hinaus wird vom französischen Staat auch beansprucht, Vernunft zu inkarnieren. Dieses Verständnis geht insbesondere auf die Dritte Republik (1870-1940) zurück, in der sich der säkulare Staat machtvoll gegen die – als solche empfundene – gesellschaftliche „Unvernunft“ (insbesondere religiöse) erhob. Hinzu kommt die autoritäre Flucht nach vorne angesichts der antikolonialen Befreiungskämpfe unter de Gaulle. Eine weitere Ebene ist die spezielle Rolle, die die Aufklärung im französischen Staatsverständnis spielt. So erklärt Macron heute einen „Krieg“ gegen einen „unsichtbaren Feind“, patrouilliert die Polizei aller Orten und wird von ganz oben herunter dekretiert, wie die Situation am besten zu handeln sei. Die Menschen werden dadurch vollkommen passiviert; es gibt kein Vertrauen in vernünftige Regelungen der Krise von unten.
Zweitens, der seit den späten 1980er Jahren grassierende Neoliberalismus, der die in Frankreich historisch starken öffentlichen Dienste angegriffen, teilweise zerschlagen und privatisiert hat. So ist die Lage in den öffentlichen Krankenhäusern desaströs, sind die Versorgungskapazitäten weit unter denen in Deutschland. Seit ziemlich genau einem Jahr gibt es im Gesundheitssektor einmal wieder eine große soziale Bewegung gegen diese Politik. Dies lässt es besonders absurd anmuten, wenn die Verantwortlichen dieser Politik nun das Krankenhauspersonal zu nationalen „Held*innen“ stilisieren. Allgemeiner gilt, dass der „Gesundheitsnotstand“ und die Ausgangssperren eine zuvor bestehende, breite soziale Bewegung gegen die Rentenreform sowie zahlreiche sich auf diese Bewegung beziehende Auseinandersetzung in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen (Schulen, Universitäten etc.) zum Stillstand gebracht hat.
Die Urständ, die der französische Obrigkeitsstaat derzeit feiert, betrifft insbesondere diejenigen, die schon im Normalbetrieb verstärkt von ihm in Mitleidenschaft gezogen werden, d.h. insbesondere das rassifizierte (Sub-)Proletariat der Vorstädte. Während sich die französische Bourgeoisie in die oftmals seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Landsitze zurückgezogen hat, werden in den proletarischen Wohngegenden die Ausgangssperren bisweilen äußerst brutal durchgesetzt. Eine Zahl mag das over-policing dieser Orte besonders verdeutlichen: So wurden im Département Seine-Saint-Denis, in dem 1,6 Mio Einwohner*innen leben (die franz. Gesamtbevölkerung beträgt etwa 67 Mio) und in dem sich viele der genannten Vorstädte befinden, bisher ein Sechstel aller landesweit verhängter Bußgelder wegen Verstoß gegen die Ausgangssperre eingetrieben.
Viele lokal bestehende, berufsgruppenübergreifenden Zusammenschlüsse (Interpro), die sich insbesondere im Rahmen der Proteste gegen die Rentenreform gebildet haben, versuchen derzeit, Selbsthilfe von unten aufzubauen. Dabei geht es weniger darum, die kaputtgesparten öffentlichen Dienste zu ersetzen, als vielmehr Handlungsmacht von unten und eine grundsätzliche Ablehnung des Krisenmanagements von oben zu demonstrieren (vgl. etwa den in verschiedenen franz. Medien veröffentlichten Aufruf). Die oftmals über Facebook koordinierten Gruppen (Entreaide) sind dabei oftmals deutlich politischer als reine, auch in Deutschland bestehenden Nachbarschaftsgruppen – nicht zuletzt, weil bereits über politische Strategien für die Zeit nach der Ausgangssperre nachgedacht wird. Verschiedene Gewerkschaften (auch jene der Studierenden, die ein umfasenden Forderungskatalog mit besonderer Berücksichtigung verschiedener Formen sozialer Ungleichheit entwickelt haben), die derzeit viel intensiver als in Deutschland arbeitsrechtliche Standards durchsetzen und partiell auch Streiks führen, um Lohnabhängige vor den Infektionsrisiken zu schützen, haben bereits zu Mobilisierungen nach der Ausgangssperre aufgerufen.